Von Ludwig Salgo und Gisela Zenz
Kontinuitätssichernde Strukturen und Verfahren im Pflegekinderbereich sind notwendig und möglich. Zwar sind auch einzelne rechtspolitische Maßnahmen unumgänglich, jedoch ist vor allem eine veränderte Praxis, Kommunikation und Organisation erforderlich, um die bereits seit 1991 vom SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) eingeforderte Vorgehensweise einer geplanten, zeit- und zielgerichteten Intervention umzusetzen. Eine wirkliche Veränderung der Praxis, die den Bedürfnissen der hier betroffenen, zumeist erheblich vorbelasteten Kinder gerecht wird, ist nur möglich, wenn von den Akteuren eine Reihe von Veränderungsschritten abgestimmt umgesetzt wird. Die nachfolgenden Forderungen beruhen auf langjähriger praktischer und wissenschaftlicher Befassung mit der Thematik.
Rechtsreformen
Oberstes Ziel einer Reform des Pflegekinderrechts ist die Ermöglichung und Sicherung von Beziehungskontinuität. Sie muss ausschließlich kindzentriert erfolgen. Zu fordern sind folgende normative Änderungen:
- Einführung einer zivilrechtlichen Absicherung der „auf Dauer angelegten
Lebensperspektive“ (im Sinne und unter den Voraussetzungen des § 37 SGB VIII)
durch das Familiengericht auf Antrag von Personensorgeberechtigten, Pflegeeltern
oder Jugendamt - Infragestellung dieser familiengerichtlich gesicherten „dauerhaften Lebensperspektive“ nur im Falle einer Gefährdung des Kindeswohls nach §§ 1666, 1666a BGB, d. h. für diesen Fall keine regelmäßige Überprüfung gemäß § 1696 BGB
- Differenzierung der Umgangsregelung für traumatisierte oder dauerhaft fremdplazierte Kinder. Keine generelle gesetzliche Vermutung der Kindeswohldienlichkeit von Umgang nach/bei Kindeswohlgefährdung (wie § 1626 Abs. 3 BGB für Kinder getrennt lebender Eltern annimmt), sondern ergebnisoffene Prüfung im Einzelfall, d.h. Außerkraftsetzung der Regelvermutung in diesen Konstellationen
- Einräumung einer förmlichen verfahrensrechtlichen Beteiligtenstellung für Pflegeeltern in allen das Pflegekind betreffenden Verfahren
- Ausdrückliche Berücksichtigung von Pflegeeltern als potentielle Einzelvormünder bei der anstehenden Neuregelung des Vormundschaftsrechts
- Zeitliche Begrenzung der Verweildauer von in Obhut genommenen Kleinkindern (§42 SGB VIII) in Bereitschaftspflege und Einrichtungen
Behördenorganisation
- Bundesweite Umsetzung von Standards zum Pflegekinderbereich (entsprechend der Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter für die Adoptionsvermittlung) und proaktive Landesjugendämter mit entsprechenden Empfehlungen zur Implementation dieser Standards in den Jugendämtern
- Spezialdienste in den Jugendämtern (Pflegekinderdienste) mit vernünftigen Fallzahlen (maximal 25 Fälle pro Fachkraft) und deren vergütungsrechtliche Gleichstellung mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Qualifizierung auch des ASD für eine kontinuitätssichernde Hilfeplanung.
Praxis Gewinnung, Vorbereitung und Begleitung von Pflegeeltern
- Qualifizierungsoffensive zur Gewinnung geeigneter Pflegeeltern durch Jugendämter und Landesjugendämter unter Beteiligung der freien auf diesem Gebiet tätigen Träger und Initiativen sowie der Pflegeelternvereinigungen
- Qualifizierte Vorbereitung auf die Aufgaben als Pflegeeltern mit Teilnahme- und Fortbildungspflichten
- Umfassende Information der Pflegeeltern über die Vorgeschichte des Kindes
- Bei der Vorbereitung und fachlichen Begleitung, Beratung, Supervision und Unterstützung von Pflegeeltern Zusammenführung von Fachwissen und Erfahrungen der Jugendämter und der freien auf diesem Feld tätigen Träger
- Errichtung von Kriseninterventionsteams unter Beteiligung erfahrener Pflegeeltern
- Entwicklung von unterstützenden Verbundsystemen zwischen Heimen und Pflegeeltern
- Übertragung von Aufgaben der Pflegekinderdienste auf freie Träger nur unter Zugrundelegung der genannten Standards
- Fortbildung der Fachkräfte in den Kinderheimen zur kontinuitätssichernden Hilfeplanung, insbesondere mit Zielvereinbarungen zu § 42 SGB VIII hinsichtlich Indikation und Anbahnung von Pflegeverhältnissen.
Interdisziplinäres Vorgehen bei der Hilfeplanung und bei der Begleitung und Unterstützung von Pflegeeltern - Erfassung des psychosomatischen Status eines jeden Pflegekindes bei Beginn des Pflegeverhältnisses zur Absicherung und Ergänzung des ohnehin im Rahmen der Hilfeplanung zu klärenden erzieherischen Bedarfs (§§ 27, 33, 36, 37 SGB VIII) durch Kinder- und Jugendärzte, erforderlichenfalls durch Hinzuziehung von Kinder- und Jugendpsychiatern bzw. Psychologen
- Regelhafte Beteiligung der aktuellen Betreuungspersonen in Bereitschaftspflege und Übergangsheimen
- Regelhafte Beteiligung von fallspezifisch kompetenten externen Fachkräften bereits an der Aufstellung wie auch an der Überprüfung und Fortschreibung der Hilfeplanung
- Generell stärker interdisziplinär ausgerichtete Hilfeplanung und Begleitung von Pflegeeltern und Pflegekindern durch Hinzuziehung und Einspeisung externer Wissens- und Erfahrungsbestände aus den Bereichen der Medizin, Psychologie und Psychiatrie („Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII ist nicht nur auf das Jugendamt bezogen)
- Vermittlung von Erfahrungswissen und Anforderungen der Pflegekinderpraxis an Mediziner und Psychologen
- Aufbau von Kooperationsbeziehungen mit Ärzten und Psychologen zur Gewährleistung qualifizierter und zeitnaher Hilfestellungen im Einzelfall (z. B. durch Rahmenverträge) Differenzierte Berücksichtigung kindlicher Interessen und Bedürfnisse
- Konsequente Umsetzung des geplanten, zeit- und zielgerichteten Interventionskonzeptes des SGB VIII, insbesondere unter Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens in Relation zum Lebensalter
- Intensivere Beachtung und Umsetzung der Adoptionsoption: „Vor und während einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie ist zu prüfen, ob die Annahme als Kind in Betracht kommt“ (§ 36 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII), unter Umständen unter Fortsetzung finanzieller Unterstützung bei Bedarf – dennoch: kein
Zwang zur Adoption, z. B. aus Gründen der Kostenersparnis - Besondere Begründungspflicht für die dauerhafte Unterbringung von Kindern unter acht Jahren in Kinderheimen oder auch in so genannten Kleinstheimen
- Spezialisierte Pflegestellen für behinderte Pflegekinder und auch für ältere Pflegekinder („Erziehungsstellen“), mit fallspezifischer Vorbereitung, Stützung, Entlastung und Supervision
- Sorgfältige Prüfung, ob eine Pflegefamilie über die Kompetenz und die Kraft verfügt und die fallspezifischen Voraussetzungen erfüllt, um mehrere Pflegekinder aufzunehmen
- Keine pauschale Präferenz für die gemeinsame Unterbringung von Geschwistern, deren Trennung häufig notwendig sein kann
- Gewährung von Hilfen für junge volljährige Pflegekinder als Regelfall
Vormundschaften
- Einsetzung nur von unabhängigen und qualifizierten (Einzel-)Vormündern als Regelfall
- Unvoreingenommene Prüfung im Einzelfall, ob die Pflegeeltern die Vormundschaft oder Pflegschaft für ihr Pflegekind übernehmen können, eventuell mit Entlastung durch Ergänzungspflegschaften für einzelne Bereiche (z. B. Unterhalts- oder Rentenangelegenheiten) Interessenvertretung des Kindes im Konfliktfall und Fortbildung der Entscheidungsträger
- Sicherstellung der eigenständigen qualifizierten Interessenvertretung des Kindes bei Interessenkollisionen zwischen Eltern und Kind nicht nur im gerichtlichen Verfahren durch Verfahrensbeistände, sondern erforderlichenfalls bereits im kinder- und jugendbehördlichen Verfahren durch qualifizierte und unabhängige Ergänzungspfleger (solange die gesetzliche Verfahrensbeistandschaft nicht auch für behördliche Verfahren geregelt ist)
- Fortbildung für Sozialarbeiter und insbesondere für Familienrichter zu Kindeswohlgefährdung, Bindung, Trauma, Stress, kindlichem Zeitempfinden und kontinuitätssichernder Hilfeplanung – auch im speziellen Kontext der Pflegekindschaft
Wissenschaft und Politik
- Einbeziehung der Hochschulen in die wissenschaftliche Begleitung einer Reform der Pflegekindschaft; dazu gehört die Konzeptentwicklung ebenso wie die Implementation und insbesondere die heute meist vernachlässigte Evaluierung der Umsetzung eines solchen neuen Konzepts
- Insbesondere für Kleinkinder ist prinzipiell die dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie innerhalb eines zeitlich vorgegebenen Rahmens zu gewährleisten; einzelne Jugendämter bringen bereits heute 80 Prozent aller unterzubringenden Kinder und Jugendlichen in unterschiedlichen Formen von Familienpflege unter
Prof. Dr. Ludwig Salgo ist Hochschullehrer am Institut für Wirtschafts- und Zivilrecht der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main und am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt/Main.
Prof. Dr. Dr. h.c. Gisela Zenz ist pensionierte Hochschullehrerin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Das Referat ist erschienen in „frühe Kindheit“ Ausgabe 04/10